Von der Motorenentwicklung zur Hausverwaltung
Wie eine DDR-Ingenieurin nach der Wende eine neue Aufgabe fand Barbara Wehr: Ein Leben im ständigen Wandel
Barbara Wehr ist Pragmatikerin durch und durch. Geboren 1955 studierte sie an der Technischen Hochschule, wurde Ingenieurin und arbeitete in der Motorenentwicklung bei Barkas. Und dann kam die Wende. Wie viele ihrer Kollegen verlor sie ihre Arbeit und musste sich nach einer neuen Stelle umschauen. „Montieren und zusammenschrauben, das macht mir jetzt noch Spaß“, schwärmt sie. Doch ihre technische Leidenschaft war auf dem Arbeitsmarkt des wiedervereinten Deutschlands wenig gefragt. „Jede Absage war ein Tiefschlag“, erinnert sich Barbara Wehr. Wie sie trotzdem nie aufgegeben hat und schließlich wieder eine erfüllende Arbeitsaufgabe gefunden hat – davon erzählt dieser Text.
Barbara Wehr begegnet mir auf dem Hof. Sie lädt mich ein, mit ihr in die Wohnanlage des Betreuten Wohnens zu kommen und zeigt mir alles, was uns auf dem Weg begegnet. Auch die Leute, die wir auf unserem Weg treffen, grüßt sie freundlich. Sofort fällt auf, dass Frau Wehr sehr pragmatisch ist.
Sie führt mich zur Bibliothek, wo ich mich kurz vorstelle. Dann bitte ich Frau Wehr, mit ihrem Bericht zu beginnen. „Also vom Urschleim fange ich nicht an“, sagt sie, nennt trotzdem ihr Geburtsjahr 1955 und erzählt dann von ihrem häufigen Wechsel zwischen verschiedenen Schulen. Zuerst war sie an der Schönauer Schule, dann an der Stelzendorfer Schule, bevor sie wieder zurück an die Schönauer Schule und später zur Erweiterten Oberschule „Karl Marx“ wechselte.
1974 begann sie ihr Studium an der damaligen Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt - heute Technische Universität - und arbeitete ab 1978 acht Jahre lang bei Numerik. Danach startete sie im Juli 1984 bei Barkas. Die folgenden sechs Jahre hat sie als eine „schöne Zeit“ in Erinnerung. Sie erzählt davon, dass sie Montagetechnologin für Trabant- Motoren und stationäre Motoren in einer reinen Männertruppe war und fügt schmunzelnd hinzu: „Nur mit Frauen, das ist immer so zickig.“ Dies bemängelt sie auch an ihrer Arbeit bei Numerik. „Da waren viele Frauen in der Truppe und das war dann nicht ganz so prickelnd.“
Barbara Wehr beschreibt mir die Arbeitssituation bei Barkas sehr strukturiert. „Wir hatten ein Großraumbüro und jeder Kollege war dann im Prinzip einer Montagestrecke zugeordnet.“ Sie berichtet, dass sie den Trabant-Motoren zugeordnet war und ergänzt lachend: „Ich war nicht alleine an der Strecke. Ganz allein Trabant-Motoren zusammenbauen, das wäre ja unmöglich.“
Normalerweise hat Barbara Wehr die Technologien für die Entwicklung der Trabant- Motoren oder der stationären Motoren über- und erarbeitet, war aber auch oft in der Montage tätig. „Ich war auch mit am Band. Hat mir Spaß gemacht, muss ich sagen“, erzählt sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
„Naja, gut“, sagt sie, als wolle sie diese positiven Erinnerungen nun hinter sich lassen, um von der Wendezeit zu berichten. Ab 1989 gab es keine Trabant- und stationären Motoren mehr. Die Fertigung ist eingestellt worden. „Und von da an ging es bergab mit Barkas.“ Heutzutage geht die Motorenentwicklung über VW. Kurz vor der Wende gab es bereits VW- Technologen, die an Trabant-Motoren arbeiteten. „Wir hatten es damals nicht geschnallt. Naja, war eben unser Ende“, erklärt Barbara Wehr mit einer gewissen Neutralität.
Jedoch bedauert sie es zutiefst, dass es Barkas dann nicht mehr gab. Mir beschreibt sie ein Gefühl der Leere und erklärt, dass vor allem die praktische Arbeit an dem Beruf bei Barkas sehr reizvoll gewesen war.
In einer Betriebsversammlung teilte man allen Arbeitern mit, dass sie von nun an in Kurzarbeit null gehen müssen. Das hieß, man hat einen gewissen Teil seines Gehalts bekommen und war die ganze Zeit zu Hause.
Sie erzählt mir von einem sehr „dramatischen Ereignis“. Ich merke deutlich, dass es ihr sehr schwer fällt, darüber zu sprechen. Barbara Wehr berichtet von ihrem damaligen Abteilungsleiter. „Mit dem sind wir immer sehr, sehr gut ausgekommen.“ Er hatte sich zuvor bei VW beworben. „Und als er dann erfahren hat, dass wir alle in Kurzarbeit null gehen, da hat er sich …“, Barbara Wehr stockt und beginnt zu weinen. Sie entschuldigt sich bei mir und fährt fort: „... bei Barkas aus dem dritten Stock gestürzt.“
Vorher hatte der Abteilungsleiter einige Arbeiter aufgefordert: „Kommt mit zu VW“. Barbara Wehr erklärt: „Wir haben ihm im Prinzip nicht glauben wollen, dass es irgendwann mal so kommt. Dass es ein Ende für Barkas geben wird.“
Nach dieser Betriebsversammlung waren die meisten Kolleginnen und Kollegen sehr traurig und bedrückt. Es fehlte ein Plan, wie es weiter gehen soll. Doch Barbara Wehr vermutet, dass einige ihrer Kollegen sich auch dachten: „Rutscht mir doch den Buckel runter!“ „Aber so war das bei mir nicht“, beschreibt sie.
Auf meine Frage, wie sie zu ihrer Entscheidung, bis zum Schluss bei Barkas zu bleiben, im Nachhinein steht und ob sie ihre Meinung heute ändern würde, reagiert sie sehr nachdenklich. Sie gibt zu, dass sie noch nie darüber nachgedacht hat und sich unsicher ist. „Vielleicht. Weil mir die Arbeit ja gerade in der Montage Spaß gemacht hat. Aber das kann ich jetzt so mit Sicherheit nicht sagen.“
Mit ihren damaligen Kollegen hatte sie danach keinen Kontakt mehr. Sie erinnert sich aber noch gut an den Meister der stationären Motoren, der damals schon sehr alt war, und einen anderen Meister, der „unten“ an der Montagestrecke arbeitete.
Im Anschluss an ihre Barkas-Zeit nahm sie an vielen Weiterbildungen und Überbrückungsveranstaltungen teil, einige davon waren auch verpflichtend. Sie meint: „Gebracht haben die im Endeffekt auch nicht viel. Musst du dich dann halt selbst kümmern.“ Sie hat viele Bewerbungen geschrieben, aber „es war nie das Passende dabei.“ In dieser Zeit war sie arbeitslos, was sie als „schlimm“ empfand. „Man hat ja dann immer die Hoffnung, wenn man eine Bewerbung schreibt, dass es vielleicht klappt. Wenn man dann wieder eine Absage bekommt, war das schon immer ein kleiner Tiefschlag.“ Nach kurzem Überlegen fügt sie hinzu: „Aber naja, muss man halt durch.“ Für ihre Kinder war es gut, dass sie von nun an erstmal zu Hause war. „Aber für mich eben nicht“, ergänzt sie.
Nach vielen Umschulungen hat Barbara Wehr schließlich bei „Elop“ noch eine Weiterbildung in Immobilienbewirtschaftung gemacht. 1998 hat sie bei der AWO als Hausverwalterin angefangen und dort bis zum ihrem Renteneintritt im Oktober 2021 gearbeitet. „Ich habe es keinen Tag bereut“, antwortet sie mir auf die Frage, ob die Arbeit bei der AWO genauso viel Spaß gemacht hat wie die bei Barkas. Sie erzählt mir lächelnd von einer Dachsanierung des Hauses im Jahr 2019. Sie beschreibt diese Arbeit als sehr „anstrengend, auch körperlich anstrengend.“
In ihrem Leben widerfuhren Barbara Wehr häufig Wechsel, sowohl in der Schulzeit als auch in der Arbeit. „Mir fiel es auch schwer, mich immer wieder neu einzugewöhnen.“ Dies erlebte sie bei der AWO ganz anders. „Da bin ich sofort gut aufgenommen worden, in ein gutes Kollektiv.“
Meine Frage, ob ihre Arbeit bei Barkas jetzt noch Auswirkungen auf sie hat, verneint sie zunächst. „Ich habe mit dem Kapitel halt abgeschlossen.“ Sie hat zwar immer versucht, sich auf der „Technikstrecke“ zu bewerben, doch das war als Frau damals schwierig. „So ein bisschen handwerklich montieren und zusammenschrauben, das macht mir aber jetzt noch Spaß. Ist schon einiges hängen geblieben.“
Für sich selbst wünscht sich Barbara Wehr, dass sie gesund bleibt und noch lange mit ihrer Familie zusammenleben kann. „Aber nicht in einem Pflegeheim“, betont sie abschließend. Der Chemnitzer Industrie wünscht sie: „Dass es so bleibt, wie es ist und nicht schlechter wird“. Zudem hofft sie, dass „die Gewalt und der Hass abnehmen“.
Das Gespräch führte Paula Döhler aus der Klasse 11/3 des Georgius-Agricola-Gymnasiums.
Erläuterung zum VEB Barkas-Werke Karl-Marx-Stadt:
Der Volkseigene Betrieb (VEB) Barkas-Werke in Karl-Marx-Stadt wurde 1958 gegründet und war ein bedeutender Hersteller von Fahrzeugen und Motoren in der DDR. Das Unternehmen produzierte vor allem die Barkas B 1000, einen Kleintransporter, der in verschiedenen Varianten für den Güter- und Personentransport eingesetzt wurde.
In der Wendezeit, ab 1989, geriet der VEB Barkas-Werke in eine Krise. Die Nachfrage nach den Fahrzeugen sank stark, da die Produktion nicht mehr mit den westlichen Standards mithalten konnte. 1991 wurde die Produktion endgültig eingestellt und das Werk wurde privatisiert. Die Schließung hatte weitreichende Auswirkungen auf die Beschäftigten und die Region, da viele Arbeitsplätze verloren gingen und das Unternehmen nicht mehr die Bedeutung hatte, die es zuvor in der DDR einnahm.