Die Textilindustrie sollte wieder mehr Wertschätzung erhalten
1932. Frau K.* wird zwischen zwei Weltkriegen geboren. Sie ist sieben Jahre alt, als Deutschland in den 2. Weltkrieg zieht. Sie erlebt nicht nur den Krieg hautnah, sondern Jahrzehnte später auch ein weiteres geschichtlich entscheidendes Ereignis: die Wende. 1949 teilt sich Deutschland offiziell in Osten und Westen. 40 Jahre lebt Frau K. in Ostdeutschland, alles richtet sich nach dem Prinzip des Sozialismus.
Als dann 1989 die Wiedervereinigung die Gesellschaft vor etwas Neues stellt, steht auch Frau K, die zu dem Zeitpunkt fleißig im Betrieb arbeitet, vor einer neuen Herausforderung. Frau K. wächst in friedlichen und liebevollen Verhältnissen in Chemnitz auf. In ihrer Familie herrscht Zusammenhalt, auch als ihr Vater stirbt. Ihre Großeltern, ihre Mutter, ihre zwei Geschwister und sie lassen sich nicht auseinanderreißen.
Im Jahr 1946 schließt sie ihre achtjährige Schullaufbahn zufrieden ab. In ihrem 17. Lebensjahr entscheidet sie sich, die linksorientierte Politik zu unterstützen. Beruflich stehen ihr jedoch vorerst nicht alle Türen offen. „Ich wollte gerne Schneiderin werden, aber das ging ja alles nicht so kurz nach dem Krieg. Unser Staat hatte diejenigen Jugendlichen, die noch keinen Beruf hatten, eingesammelt. Im Keller des alten Arbeitsamtes, dort haben die die Mädels reingetan und wir haben Handarbeiten gemacht für verschiedene Firmen“, erzählt Frau K. im Interview. Die Zeit mit den anderen Mädchen bleibt ihr aber sehr positiv in Erinnerung. „Wir haben gesungen. Ach, das war schön“, sagt sie.
Viel Geld verdient sie mit dieser Arbeit aber nicht, weshalb Frau K. sich um eine neue Arbeitsstelle kümmert. In der ehemaligen AG Marschel, Frank und Sachs wird sie schließlich fündig. Die Nähmaschine ist ihr neuer treuer Begleiter. Sie erhält ein stabiles Einkommen und entschließt sich daher ein paar Jahre später, eine Familie zu gründen. Sie bekommt ihr erstes Kind. Kurz darauf heiratet sie.
Ihre Familie steht nun erstmal im Vordergrund. Es läuft aber alles nicht nach Plan. Ihre Ehe verläuft unglücklich. Ihr Mann arbeitet und unterstützt sie nicht. Für sie konnte es so nicht weiter gehen, betont Frau K. Sie kümmert sich wieder um eine Arbeit, damit sie ihre Familie versorgen kann. 1975 landet sie schließlich beim VEB Möbelstoff- und Plüschwerke, früher noch unter dem Namen August Hübsch - Möbelstofffabrikation bekannt, auf der Straße der Nationen in Karl-Marx-Stadt.
Bei diesem Betrieb wird sie bis zur Wende arbeiten. Es herrscht ein verlässliches und freundliches Arbeitsklima. Der Betrieb bietet Wohnungen an, es wird sich um Ferienplätze gekümmert und stets für das Wohl der Arbeiter gesorgt. „Ich bin immer gerne auf Arbeit gegangen“, berichtet Frau K. Ihr Job sorgt für einen sehr guten Ausgleich neben der Beziehung zu ihrem damaligen Ehemann. Wenn es bei ihr zu Hause mal wieder schlechter läuft, sorgen sich ihre Kolleginnen um sie. Auch ihre Chefin hat immer ein offenes Ohr und stellt ihre Hilfe stets zur Verfügung.
Bei ihrer Scheidung greifen ihre Chefin und die Kolleginnen Frau K. schließlich stark unter die Arme und unterstützen sie. Frau K. fällt auch selbst immer durch eine positive Arbeitseinstellung auf. Sie kommt sehr gut mit den Maschinen auf Arbeit zurecht. Deswegen wird ihr die Stelle der Konfektionsleiterin angeboten. Hierfür tritt sie eine zweijährige Sonderausbildung mit der anschließenden Verleihung eines Meisterbriefes an. Diese Ausbildung schließt sie noch vor der Wende ab. Viel Zeit, davon zu profitieren, bleibt Frau K. jedoch nicht.
Mit der Wende wird der Betrieb VEB Möbelstoff- und Plüschwerke schließlich Schritt für Schritt aufgelöst. Mitarbeiter werden nach und nach entlassen. Es fällt ihr schwer, das mit anzusehen. „Wenn die Kollegen ihre Arbeit verlieren, ist das schon was schlimmes“, berichtet sie. Frau K. selbst zählt zu einer der ersten Kolleginnen, die entlassen werden. Sie ist 60 Jahre, als der Betrieb komplett auseinanderbricht.
Etwas bleibt jedoch bis heute: die Freundschaft zwischen den Kolleginnen. Regelmäßig finden Treffen statt, damit sich alle gemeinsam über das Neuste austauschen können. Als sie dann plötzlich noch herausfindet, dass eine ehemalige Kollegin ganz bei ihr in der Nähe wohnt, kann sie ihre Freude nicht verstecken. Heute machen sie so viel wie möglich zusammen. Ihr Betrieb hat demnach für wundervolle Freundschaften fürs Leben gesorgt. Nach der Wende entscheidet sich Frau K., in Rente zu gehen.
Während Kollegen von ihr vereinzelt mit Freude auf die Wende blicken, fiel es Frau K. anfangs schwer zu akzeptieren, dass Deutschland sich wieder vereinigt und ihr Betrieb zerbricht. Mit der Zeit nimmt sie es aber hin. Dass mit der Wende die Textilindustrie in Chemnitz stark wegbricht, findet Frau K. auch heute noch schade. Sie würde sich wünschen, dass diese Industrie wieder etwas mehr Wertschätzung erhält.
Noch vor der Wende wird ihr zweiter Sohn geboren. Mit ihm macht sie sich dann in ihrer Rente eine entspannte Zeit. Gemeinsam fahren sie zur Talsperre Kriebstein, gehen paddeln und genießen die Zeit. Später zieht sie ihre Enkeltöchter mit groß. Familie spielt, wie vor so auch nach der Wende noch eine sehr präsente Rolle in Frau K.‘s Leben. Regelmäßig kommen die Verwandten auch heute noch zu Besuch.
Am Donnerstag, dem 26.09.2024, steht dann eine Schülerin, ausgestattet mit Stift, Zettel und Audio-Recorder vor der Haustür von Frau K. Draußen regnet es, als sie sich zusammen an den Tisch setzen und sich auf ein Interview vorbereiten. Kurz wird besprochen, wie der Ablauf ist und schon läuft der Audio-Recorder. „Nun, wann wurden Sie denn geboren, Frau K.?“ ...
Das Gespräch führte Marlene Huster, Klasse 11/3, Georgius-Agricola-Gymnasium * Frau K. war gern bereit, ihre Geschichte zu erzählen, bat aber darum, anonym bleiben zu dürfen. (Die Red.)
VEB Möbelstoff- und Plüschweberei Karl-Marx-Stadt
1857 als Firma Hübsch & Rümmler in Chemnitz gegründet, wurde das Unternehmen ab 1948 nach einer wechselvollen Geschichte als VEB Möbelstoff- und Plüschweberei Karl-Marx-Stadt geführt. Dem Hauptwerk auf der Straße der Nationen wurden in den folgenden Jahren weitere Betriebsteile angegliedert. Im Zuge der allgemeinen Kombinatsbildung wurde die MöPlü, wie sie allgemein genannt wurde, am 1. Januar 1971 dem Großbetrieb VEB Möbelstoff- und Plüschweberei in Hohenstein-Ernstthal angegliedert. Damit hatte das Kombinat dann insgesamt 20 Produktionsstätten. Dieses Unternehmen der Raumtextilindustrie mit 4.000 Beschäftigten war der größte Hersteller von Möbelbezugsstoffen in der DDR.
Quelle: https://chemnitz-gestern-heute.de/august-huebsch-moebelstoffe/