Gute Ideen, wenig Chancen
Wenn Innovationen in der Schublade landen
Die Wendezeit kennen wir als junge Generation nur aus unseren Schulbüchern. Vielleicht auch vereinzelt durch Geschichten von Familienangehörigen, Geschichten, die uns in allen Einzelheiten bekannt sind. Viele Menschen mussten sich den Veränderungen des Mauerfalls anpassen. Siegfried Hengst ist einer von ihnen. In einem Gespräch habe ich ihn als einen entgegenkommenden und gutmütigen Mann kennenlernen dürfen. Gemeinsam saßen wir in seinem Wohnzimmer und er begann zu erzählen: „Geboren wurde ich am 8. Mai 1934 im Chemnitzer Stadtteil Borna. Meine Mutter war 39, als sie mich zur Welt gebracht hat.
Als kleiner Junge war ich sehr selbstständig, das ist ja heute auch nicht mehr so. Meine Schultasche habe ich damals zum Beispiel selbst genäht, als sie kaputt war. Ich hatte zwei Schwestern und zwei Brüder. Zusammen mit unseren Eltern lebten wir damals in einer kleinen Doppelhaushälfte in Borna. Da war nicht viel Platz, aber man musste nehmen, was da ist. Bis zur 8. Klasse besuchte ich die Hindenburgschule an der Wittgensdorfer Straße/Bornaer Berg. Das war zu dieser Zeit die einzige Flachbauschule Deutschlands.
Als ich 1948 aus der Schule raus war, machte ich eine dreijährige Ausbildung zum Gürtler. Ein Gürtler ist eine Person, die durch das Bearbeiten und Verformen von Metallen Gebrauchs- und Schmuckgegenstände herstellt, zum Beispiel Gürtelschnallen oder Lampen. Danach habe ich acht Jahre im Industriewerk Flugzeuge gebaut und vier Jahre im Bereich des Fahrzeugmaschinenbaus bei Barkas gearbeitet.
Ein Innenarchitekt bei Barkas stellte mir eines Tages einen Bekannten vor, der bei Robotron angestellt war. Dieser Mann erzählte mir viel über das Kombinat und er fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, dort anzufangen. Es kam eins zum anderen und so hatte ich 1964 dort meinen ersten Arbeitstag. Das Kombinat Robotron umfasste viele Betriebe in der DDR. In Karl-Marx-Stadt waren wir für die Formgestaltung zuständig. Wir entwarfen zahlreiche Computertypen, Schreib- und Rechenmaschinen und auch Einrichtungen für Großraumbüros. Heute nennt man diesen Beruf „Designer“. Die Modelle wurden in Karl-Marx-Stadt gebaut und dann in andere Betriebe, die zu Robotron gehörten, also nach Erfurt, Jena, Zella-Mehlisii oder Dresden weitergeleitet, damit dort die fertigen Geräte gebaut werden konnten.
Jedoch wurden viele Ideen nicht genommen und verschwanden im Schreibtisch. Die Modelle hatten ganz unterschiedliche Maßstäbe, von 1:1 bis 1:10 war alles dabei. Das Material war in den Anfangszeiten hauptsächlich Gips, später benutzten wir auch Plastik oder Holz. Ich habe auch eine Zeit lang die verschiedensten Arten von Tastenknöpfen für die Rechen- und Schreibmaschinen entworfen. Da gab es immer wieder unterschiedliche Vorgaben. Die Muster wurden oft geändert und am Ende wurden die Ideen meistens verworfen.
Die Atmosphäre im Betrieb war immer sehr angenehm. Ich habe nie Streit gesucht, aber mir auch nichts gefallen lassen. Doch im Großen und Ganzen war es sehr harmonisch. Deswegen hat mir meine Arbeit auch sehr viel Spaß gemacht. Ich habe gern bei Robotron gearbeitet. Ich hätte auch gern weiter gemacht, aber die Treuhand löste das Kombinat nach der Wende aufgelöst oder andere Betriebe kauften Teile auf.
Die meisten Betriebe konnten sich einfach unter den Bedingungen der Marktwirtschaft nicht halten und gingen konkurs. Meine 26 Jahre Arbeitszeit bei Robotron waren somit beendet. Ich habe mich allerdings sofort neu beworben, in Niederstotzingen, Baden-Württemberg, bei einem Betrieb namens Waltl Design. Dort habe ich auch Modelle gebaut, jedoch etwas größere als bei Robotron, zum Beispiel Tragflächen von Flugzeugmodellen oder auch Seifenkisten. Diese Modelle kamen auch wirklich zum Einsatz.
Zwei Jahre bin ich zwischen der Arbeit und meiner Heimat Chemnitz gependelt. Im August 1992 zog ich dann schließlich mit meiner Frau nach Niederstotzingen. Mit 57 Jahren wurde mir der Vorruhestand angeboten, das habe ich allerdings abgelehnt. Die Arbeit bei Waltl Design war sehr angenehm, ich habe das einfach gern gemacht. Warum sollte ich da eher aufhören? Nach 47 Arbeitsjahren bin ich dann in Rente gegangen. Allerdings fehlt mir bis heute ein Arbeitstag, um die 47 Jahre komplett zu haben und keiner weiß, wo dieser geblieben ist.
Im April 2019 hatten meine Frau und ich Eiserne Hochzeit. Das sind 65 Jahre! Kurz darauf ist sie dann verstorben. Nun kannte ich nicht so viele Leute dort drüben, es war bedrückend, allein in dem großen Haus zu wohnen. Also habe ich mich entschlossen, wieder nach Chemnitz zurückzuziehen.
Heute lebe ich allein mit meinem Kater Speedy auf dem Kaßberg.
Ich habe drei Kinder, vier Enkel und vier Urenkel, zu denen ich regelmäßig Kontakt habe. Ich hoffe, dass das so bleibt und auch meine anderen Bekanntschaften weiterhin bestehen bleiben. Natürlich wünsche ich mir auch Gesundheit, trotz meiner Krankheit. Für die Stadt Chemnitz und ihre Industrie hätte ich mir gewünscht, dass die Betriebe der DDR erhalten geblieben wären. Ich habe damals einfach nicht verstanden, warum alles den Bach runterging, gerade im Textilmaschinenbau. Warum so viele Betriebe aufgelöst wurden und auch viele der Arbeiter ihren Beruf aufgeben mussten. Mir wäre es lieber gewesen, wenn es heute immer noch kleinere Betriebe geben würde, wenn auch mit verringerter Belegschaft. Doch ich sehe das alles trotzdem sehr positiv, wie bisher schon mein ganzes Leben.“
Das Gespräch führte Lisa Schmidt, Klasse 11/4, Georgius-Agricola-Gymnasium
Über das Kombinat Robotron
Gegründet wurde das Kombinat Robotron am 1. April 1969 in Dresden. Stammbetrieb des Kombinats war der VEBv RAFENA Radeberg, später übernahm der VEB Robotron-Elektronik diese Rolle. 1978 wurden die Betriebe des gerade aufgelösten Kombinats Zentronik in Robotron eingegliedert. Mit 68.000 Mitarbeitern war Robotron in den 1980er Jahren das zweitgrößte Kombinat in der DDR.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde das Kombinat aufgelöst und die einzelnen Betriebe privatisiert. Die Zahl der Mitarbeiter sank schnell: von 65.000 Beschäftigten Ende 1989 waren es im Jahr darauf nur noch 37.000 Beschäftigte, verteilt auf 18 Betriebe.
Einige wenige Nachfolgefirmen existieren noch, allerdings mit stark verringerter Belegschaft, einige wurden mittlerweile von anderen Firmen aufgekauft.
Das ehemalige Kombinatsgebäude in Dresden wurde 2016 abgerissen.
Quelle: https://www.robotrontechnik.de/index.htm?/html/standorte/robotron/htm
i Eine Person die durch das Bearbeiten und Verformen von Metallen Gebrauchs- und Schmuckgegenstände herstellt. Z.B. Gürtelschnallen oder Lampen
ii Gemeinde in Thüringen
iii Die Volkskammer schafft im Juni 1990 die Treuhand, um die DDR-Wirtschaft neu zu organisieren und zu privatisieren. Nach der Deutschen Einheit setzt Bundeskanzler Helmut Kohl auf eine zügige Privatisierung. Er rechnete mit hohen Einnahmen, die die Einheit finanzieren sollen
iv pleite
v Volkseigener Betrieb