Ich hatte Glück, die Wende veränderte mein Leben positiv

An einem verregneten Donnerstag früh um zehn sitzt Werner Gläser, ein fast 90 Jahre alter Mann, am Tisch des Hobbyraums der Betreuten Wohnanlage der AWO an der Stollberger Straße. Gegenüber nimmt eine Schülerin Platz, ausgestattet mit den Schreibutensilien ihrer Generation, einem iPad mit Stift. Trotz des enormen Altersunterschiedes der beiden Interviewpartner besteht ein großer gemeinsamer Wille: der Austausch über das Leben in der DDR und während der Wendezeit. In diesem Bericht geht es um Werner Gläsers Leben als einer von vielen ostdeutschen Arbeitern in verschiedenen Chemnitzer Betrieben. Er erlebte die Wendezeit und damit verbundene Schicksale aus seiner ganz eigenen Perspektive und teilt seine Geschichten mit jüngeren Generationen.

Seine Kindheit beginnt im Jahr 1936 in einer Wohnung mitten auf dem Chemnitzer Neumarkt. Nach einem Umzug nach Grüna 1942, geprägt von den ersten Trümmern des 2. Weltkriegs, besucht der sechsjährige Werner die dortige Grundschule. Aufgrund der Scheidung seiner Eltern 1946 zieht er auf den Kaßberg, wo seine Mutter eine Arbeit als Wirtschafterin findet.

„Das war natürlich ein ganz anderes Milieu, so wohlhabend wie die waren“, muss Werner Gläser zugeben. Anschließend wechselt er auf die heute immer noch existente Andréschule, die damals noch eine getrennte Knaben- und Mädchenschule war. Dort lernt er bis zur achten Klasse und entscheidet sich weiterführend für eine Dreherlehre bei Spinnzwirn.

Dieser 1866 gegründete Betrieb auf der Zwickauer Straße in Chemnitz liefert beispielsweise Textilmaschinen und produziert Zubehör für Kunstfaserspinnereien. Als Dreher beschäftigt sich Werner hauptsächlich mit der Herstellung solcher Bauteile. „Während der Lehrzeit besuchten wir die Berufsschule und hatten wöchentlich einen Bericht abzugeben“, erinnert sich Werner Gläser. Nach bestandener Facharbeiterprüfung arbeitete er in der Produktion bis 1955 im Drei-Schicht-Betrieb. „Der Arbeitstag war acht Stunden lang und der Sonnabend gehörte zur Arbeitswoche mit dazu, da können Sie sich denken, wie knapp die Freizeit war.” So beschreibt Werner Gläser seine anstrengende Arbeit in seinem ersten Betrieb.

Bald erlebt der inzwischen 19-Jährige jedoch einen Umschwung. „Da kam einer und der sagte: „Mensch, komm nur zur Volkspolizei, da ist es ein bisschen ordentlich“, erzählt Werner amüsiert über diese einschneidende Erinnerung. Ab 1955 ist Gläser also Mitglied der bewaffneten Organe der DDR und arbeitet erst bei der Kasernierten Volkspolizei in Potsdam an der Unteroffiziersschule, tritt dann seinen Dienst in der Außenstelle Dresden an und wechselt schließlich auf eigenen Wunsch ins damalige Karl-Marx-Stadt. Ihm untersteht eine Gruppe von zehn Männern, mit denen er unter anderem für die innere Sicherheit und Ordnung im sozialistischen deutschen Staat sorgen soll.

Nach zweijährigem Dienst geht Werner Gläser auf die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) der TH Karl-Marx-Stadt. Dort holt er sein Abitur nach mit dem Wunsch, später Physik zu studieren. Jedoch muss er nach dem erfolgreichen Abschluss der Hochschulreife zweifeln. „Unterdessen hatte ich schon eine Frau”, überlegt Werner. „Und wenn du dann fünf Jahre studierst und eine Familie noch dazu hast, das wird ja mit dem Geld auch verdammt knapp”. Zudem erreicht ihn bald darauf auch die Absage der Universität. „Auf einmal sagte der Verantwortliche: ‚Es tut uns leid, wir haben die Semester schon gebildet, die sind voll und Sie können frühestens nächstes Jahr anfangen’”, erinnert sich Werner.

Zu seinem Glück erfährt er jedoch noch im selben Gespräch, dass andererseits an der Ingenieurschule noch Leute für das Abendstudium gesucht werden. „Und dann hab ich mich fürs Abendstudium angemeldet“, erzählt er.

Gleichzeitig beginnt er in dem Volkseigenen Betrieb (VEB) Kaltverformung zu arbeiten. Zuerst ist er als Hilfstechnologe und dann als Gruppenleiter der Abteilung Kundendienst und der Absatzabteilung tätig. Dort legt Werner Gläser 1965 dann auch seine Ingenieurprüfung ab. Sein damaliger Betrieb wird ein Jahr später dem VEB Drahtziehmaschinenwerk Grüna angegliedert. In diesem Betrieb wurden beispielsweise Maschinen zur Drahtproduktion aus Stahl und Kupfer angefertigt. Bis 1968 arbeitet Gläser dort als Marktforscher, bis er eines Tages in Kontakt mit seinen früheren Ingenieurkollegen kommt. Werner erinnert sich: „Die haben dann gesagt: ‚Mensch komm, wir suchen bei RAWEMA Leute’, und ich hab dann einfach vom Drahtziehmaschinenwerk gewechselt und bei RAWEMA angefangen.“

Dieser Betrieb ist ein bedeutendes Maschinenbau-Unternehmen des Kombinats „Fritz- Heckert“, das sich auf die Projektierung von Werkzeugmaschinen spezialisiert. Dazu zählt außerdem die Planung und Modernisierung von Industrieanlagen und der Export verschiedenster Werkzeugmaschinen ins Ausland.

Gläser wird dort als Ingenieur in der Abteilung Betriebsorganisation angestellt und führt später sogar die Abteilung Invest. Nicht direkt an der Konstruktion beteiligt, beschäftigt er sich hauptsächlich im Innendienst mit der Buchhaltung und Berichterstattung über das Rechnungswesen im Betrieb.

„So war unterdessen das Jahr 1980 herangekommen und die Wirtschaft der DDR schwächelte“, schildert Werner Gläser. Die meisten kleinen privaten Betriebe wurden verstaatlicht. Ingenieure von RAWEMA wurden in das Kombinat Maschinenbau delegiert und mit 25 bis 30 anderen Unternehmen zusammengefasst, die dem Wirtschaftsrat des Bezirks Karl-Marx Stadt unterstanden. Dort übernimmt Werner Gläser die Investitionsabteilung in der Kombinatsleitung bis 1989.

Beim Gedanken an das Wendejahr erinnert sich Werner an eine bedeutende Kombinatsleitungssitzung: „Da stand plötzlich ein ehemaliger Betriebsdirektor auf und sagte: ‚Also passt mal auf, ihr von der Kombinatsleitung, wir haben nichts mehr mit euch zu tun, wir sind alle raus!‘“. Dann löste sich das Kombinat auf und die Ingenieure der Kombinatsleitung werden auf die vorher zum Kombinat gehörenden Betriebe aufgeteilt. „Und so kam ich zu dem VEB Hebezeuge“, sagt Werner im Interview. Dieser Betrieb spezialisiert sich auf den Schwermaschinenbau, zu dem unter anderem der Bau, die Wartung und die Instandhaltung von Lastenaufzügen zählt.

Mit der Bildung der Treuhand erfahren viele ostdeutsche Betriebe, so auch der VEB Hebezeuge, ersten Kontakt mit westlichen Unternehmen. „Zuerst hatten wir mit dem Unternehmen Schmidt und Sohn zu tun“, erklärt Werner, „die haben sich aber nicht sehr freundlich uns gegenüber benommen. Sie haben uns 20 Mitarbeiter weggenommen und einige Lastenaufzüge“.

Ganz aufgebracht davon erzählt Gläser: „Den Tag vergesse ich nie. Ich hatte ein bisschen Urlaub und habe die Schwiegermutter im Krankenhaus besucht. Auf einmal kommen mir unsere Monteure entgegen und sagten zu mir: ‚Du musst sofort auf Arbeit kommen. Schindler kommt.‘ Von diesem Tag an hat Schindler uns übernommen und die Schindler- Außenstelle-Süd-Ost in Chemnitz gebildet.“

Schindler ist ein privates Schweizer Unternehmen, das seit 1874 international im Bau und in der Wartung von Aufzügen und Fahrtreppen tätig ist. Schindler betreibt auch nach der Wende alle Aufzüge der DDR weiter und kann deswegen nicht sehr viele Arbeiter entlassen. Werner Gläser übernimmt zu dieser Zeit die Leitungsfunktion über wichtige Verträge, bei denen es um bis zu 50.000 Mark geht, und ist deswegen ein essentieller und unverzichtbarer Teil des Betriebs.

Im Gegensatz zu vielen, die ihre Arbeit nach der Wende verloren haben, ist Werner Gläser also ab 1990 Mitarbeiter bei Schindler. „Das war natürlich alles sehr günstig für uns“, stellt er fest, „denn da ich von einem Betrieb zum nächsten delegiert worden bin, ist mein Gehalt von Schindler übernommen worden. Das kriegte ich dann zum ersten Mal in Westmark ausgezahlt.“ Diese Voraussetzungen stellen eine gewisse Sicherheit für das eigene Leben und das Leben seiner Familie dar, die nur wenige ostdeutsche Arbeiter nach der Wende genießen konnten. „Wenn ich daran denke, wie viele in unserer AWG-Wohnanlage 1 arbeitslos waren und wenn ich erfuhr, was die in den anderen Betrieben gemacht haben, das hat Schindler alles nicht gemacht“, erklärt Werner, „ Dagegen habe ich natürlich die gesamte Wendezeit relativ gut überstanden.“

Mit verschiedenen politischen und strukturellen Veränderungen nach 1989 wird Werner ebenfalls zum Beitritt in die SPD eingeladen. Seine Begeisterung für die Politik hält sich zu dieser Zeit jedoch in Grenzen. So äußert sich Werner dazu: „Nee, ich hab die Schnauze voll, ich gehe zu keiner Partei mehr!“. Trotz der anstrengenden politischen Umschwünge empfindet Gläser die kapitalistische, westliche Wirtschaft, die in seinem Betrieb eingeführt wurde, durchaus als wertvoll und positiv. Zu DDR-Zeiten untersteht sein Betrieb dem Wirtschaftsrat, von dem die Vorgaben für alle Investitionen ausgehen und an den Bilanzanteile gesendet werden müssen. „Bei der Westwirtschaft haben wir die Maschinen einfach selbst gekauft, da ging es nach Geld und nicht nach der IBB (Industrielle Bilanzbuchhaltung)“, meint Werner. Außerdem wird der Betrieb mit der Wende viel effizienter und ertragreicher als er in der DDR war.

Demnach ist Werner Gläser ein Beispiel für DDR-Bürger aus der Industrie, welche die Wendezeit gut überstanden hatten und sogar von der neuen Westwirtschaft profitierten. Nach fünf Jahren Arbeit bei Schindler wird Werner 1995 entlassen. Wegen der großen Arbeitslosigkeit beginnt die Rente zu dieser Zeit gesetzmäßig mit 60 Jahren. „Dies nutzte Schindler aus“, sagt Gläser, der nach einem Jahr Arbeitslosigkeit die wohlverdiente Rente genießt. „Dann fängt Sie das gute soziale Netz unserer Bundesrepublik auf, sagte mir mein neuer Betriebsdirektor“, erinnert er sich. Trotz Ruhestand bleibt er nicht untätig, sondern tritt dem Seniorenbeirat der Stadt Chemnitz bei. „Da weiß ich noch“, erzählt Werner Gläser, „wir waren beim Seniorenbeirat in Düsseldorf zu Gast und haben abends zusammen gesessen. So kamen wir auf die Rente zu sprechen. Es war einer dabei, der war genauso alt wie ich und bekam auch Rente. Zwar hatten wir damals fast gleich hohe Renten, aber er bekam zusätzlich noch eine ebenso hohe Betriebsrente. Die hatten wir ja nicht, die gab es in der DDR nicht. Deswegen haben wir heute bei uns auch viele alte Menschen, bei denen das Geld knapp wird.“

Wirtschaftliche Probleme sieht Werner heutzutage auch im Pflegekräftemangel, den er aktiv in seiner Betreuten Wohnanlage der AWO bemerkt und wünscht sich mehr Fachkräfte und Nachwuchs in diesem Bereich. Zum heutigen Stand der Technik und Industrie kann Gläser jedoch nichts mehr sagen. „Ich bin schon dreißig Jahre raus und kann nicht mal mehr Zeitung lesen.“ Er ist allerdings froh über den guten Draht zu seinen Kindern und Enkelkindern, die ihm bei jeglichen Problemen helfen und unterstützen können und ihn natürlich auf dem Laufenden halten.

Werner kann auf ein fast 90 Jahre langes Leben und eine große Zahl von Erinnerungen aus Zeiten, die viele junge Menschen heute nicht einfach nachvollziehen können, zurückblicken. Umso wichtiger ist es also, dass zwischen den verschiedenen Generationen ein Austausch über vergangene Zeiten stattfindet, bevor diese vergessen werden. Deswegen ist es äußerst bedeutsam, dass Senioren wie Werner Gläser dazu bereit sind, sich über persönliche Erlebnisse zu öffnen und diese mit der Öffentlichkeit zu teilen.

Das Gespräch führte Anna Carlotta Günther, Klasse 11/1, Georgius-Agricola-Gymnasium 1 

Eine Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) war in der DDR der Zusammenschluss von Beschäftigten in Betrieben und Institutionen zu einer sozialistischen Genossenschaft mit dem Zweck der Errichtung, Erhaltung und Verwaltung von Wohnungen als genossenschaftliches Eigentum. Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften wurden unter anderem mit zinslosen Krediten staatlich gefördert. Die Mitglieder erbrachten Arbeitsleistungen und erwarben Genossenschaftsanteile. Quelle: www.wikipedia.de